Rückblick 2018 – Wild

ARCHAISCH, AUSGELASSEN, AVANTGARDISTISCH

Zwischen archaischen Klängen und ausgelassenen Abenden, zwischen meditativer Vokalmusik und avantgardistischen Performances – die Besucherinnen und Besucher der 7. Schlossmediale erlebten von 18. – 27. Mai 2018 passend zum Jahresthema WILD zehn besondere Abende auf Schloss Werdenberg. Vier Konzerte (das Eröffnungskonzert WILDWERKE, die ALEHOUSE SESSIONS mit den Barokksolistene, TIEFE WASSER am Voralpsee und der Flamencoabend DIÁLOGOS SALVAJES) sowie die beiden Bildvorträge WILDE WEGE von This Isler waren restlos ausverkauft, 2’173 Besucher und Besucherinnen konnten gezählt werden.

«Diese Woche war so richtig wild!»

«Diese Schlossmediale-Woche war so richtig wild!», freut sich die künstlerische Leiterin des Schloss Werdenberg, Mirella Weingarten. «Sie war ausgelassen wie die ALEHOUSE SESSIONS der Barokksolistene, exzentrisch wie das Konzert BALGEREI mit seinen Staubsaugern und Akkordeons, archaisch wie die Dudelsackklänge des Quatuor Sonneurs und ursprünglich wie der Abend TIEFE WASSER inmitten der Berge am Voralpsee. Und dass Heiner Goebbels in diesem Jahr unser Komponist und Künstler im Fokus war, hat mich wirklich glücklich gemacht. Goebbels lässt sich in seinen Arbeiten weder durch bestimmte Genres noch durch räumliche Gegebenheiten einschränken, bei ihm existieren verschiedenste Kunstformen stets gleichberechtigt nebeneinander. Diese Art zu arbeiten entspricht sehr der Art und Weise, wie ich auch die Schlossmediale sehe.»

Auch die Präsidentin des Vereins Schloss Werdenberg, Katrin Glaus, zieht eine erfreuliche Bilanz: «Mehr als 2’100 Kulturliebhaber haben 2018 die Schlossmediale Werdenberg besucht, und es gibt zwei Dinge, die mich in diesem Jahr besonders gefreut haben: Zum ersten ist es wieder gelungen, weltbekannte Vertreter der musikalischen Avantgarde ins Schloss zu holen, darunter der Komponist Heiner Goebbels, der amerikanische Stimmkünstler David Moss und der französische Dudelsack¬virtuose Erwan Keravec. Und zum zweiten hat das regionale Publikum dieses Angebot begeistert angenommen und sich mit Mut und Neugier auf zahlreiche «wilde Abende» im Schloss eingelassen. All das spricht für die besonderen Charakter dieses Festivals, der sich mehr und mehr herumspricht.»

Drive, Rhythmus und drängende Dynamik

Zu Füssen eines «Wilden Mannes» der Stipendiatin Patricia Lambertus im Schlosseingang empfing der amerikanische Stimmkünstler David Moss das Publikum zum Eröffnungskonzert WILDWERKE mit einem Mit einem «Wild Welcome»: Mit leisem Gurren und heiserem Krächzen, sanftem Säuseln und verzücktem Schreien stimmte er das Publikum auf all das ein, was es in einer wilden Woche zu erwarten hatte. Im Zentrum aber stand der Komponist und Künstler im Fokus Heiner Goebbels und sein Werk «Surrogate». Goebbels hat es aus seinem gewaltigen Orchesterwerk «Surrogate Cities» für Klavier, Schlagzeug und Stimme gleichermassen «kondensiert» – doch auch in dieser kleinen Besetzung liess das Stück nie den enormen Drive, die fesselnde Rhythmik und die drängende Dynamik seines «grossen Bruders» vermissen. Kongenial vorgetragen von der Pianistin Heike Gneiting, dem Schlagwerker der Berliner Philharmoniker Jan Schlichte und dem Stimmkünstler David Moss erlebten die Besucher und Besucherinnen einzigartige 15 Minuten Musik. 

Ausgelassen der Abschluss des Eröffnungsabends im Dachstock: Die norwegischen Barokksolistene begeisterten das Publikum in «Purcell’s Playground» mit solch purer und unmittelbarer Freude am Musizieren, dass der Funke sofort übersprang. Auch am darauffolgenden Tag machten der Geiger Bjarte Eike und seine Musiker im restlos ausverkauften Konzert ALEHOUSE SESSIONS aus der alten Musik so etwas wie barocken Rock’n’Roll: mitreissend, leidenschaftlich und mit einem breiten Grinsen im Gesicht. 

Monotoner Wohlklang, bombastische Dissonanz

Die Konzerte am Pfingstsonntag und -montag waren ebenfalls dem Komponisten im Fokus Heiner Goebbels gewidmet. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können: so ruhig und meditativ das eine, so archaisch und urtümlich das andere. WORSTWARD HO am Pfingstsonntag mit dem berühmten Vokalensemble Theatre of Voices begann in der dunklen, russgeschwärzten Schlossküche mit Heiner Goebbels Werk nach Samuel Becketts Text «Worstward Ho»: Nur schemenhaft waren die vier Sänger zu erkennen, umso intensiver tauchte man ein in den monotonen, melodischen Wohlklang von Samuel Becketts Worten und Heiner Goebbels Musik. Der zweite Teil des Abends gehörte der alten Musik: Mit «Lachrimae or Seaven Teares» des 1563 geborenen englischen Komponisten John Dowland bewies das Theatre of Voices noch einmal seine herausragende Virtuosität.

Am Pfingstmontag dann das Kontrastprogramm: Denn die Klänge, die die vier Musiker des Quatuor Sonneurs im Konzert AU COEUR DE LA FORÊT mit ihren uralten, bretonischen Instrumenten produzierten, glichen einer gewaltigen und unentwegten musikalischen Brandung: mal bombastisch und dissonant, dann wieder flüsternd und leise atmend. Der Abend begann mit einer unvergesslichen Wanderung: Das im Schlosshof versammelte Publikum vernahm zunächst ferne Dudelsackklänge am Werdenberger See, die langsam näherkamen. In der Ferne erkannte man den französischen Dudel–sack¬virtuosen Erwan Keravec, der für die Uraufführung des von Heiner Goebbels für ihn persönlich komponierten Werks vom See kommend langsam durchs Städtli die Treppen zum Schloss hinanzog. 

Zwischen Staubsaugern, im Urwald


Das Konzert EINE BALGEREI MIT CHARLOTTE, GERRY UND URBAN hätte das Publikum eigentlich nicht in den Wald führen wollen und sollen – ganz im Gegenteil! – und tat es dennoch. Das Aufeinandertreffen von acht Staubsaugern, die mit ihrer Luft acht Akkordeons bespielten, und den drei Musikern Charlotte Hug, Gerry Hemingway und Urban Mäder entführte die Musikinstrumente, die Haushaltsgegenstände und die Besucher in einen nächtlichen Urwald: Denn so klang es, wenn man die Augen schloss, und den überirdischen Geräuschen der Stimmakrobatin Charlotte Hug und ihrer Viola lauschte, die im Zwiegespräch mit Staubsaugern und Handorgeln mal klang wie ein echauffierter Singvogel, mal wie ein heiser brüllendes Raubtier, und bisweilen wie ein Lebewesen, dessen Existenz bisher noch nicht bekannt war. 

Vom Altersheim in die Eiszeit

Zwei geniale Frauen, die Berliner Schauspielerin Anna Böttcher und die Schweizer Jodlerin Nadja Räss, bescherten dem Publikum am Donnerstag und Freitag zwei bezaubernde Abende: In HÖRROHR nach einem Roman der Künstlerin Leonora Carrington erzählte, spielte und performte Anna Böttcher im Alleingang (unterstützt von der Pianistin Maja von Kriegstein), die Geschichte der 92jährigen Marian, die von ihrer Freundin erst ein Hörrohr geschenkt bekommt, gegen ihren Willen ins Altersheim verfrachtet wird, von wo sie die Welt vor einer neuen Eiszeit rettet. Hinreissend pendelte Anna Böttcher zwischen der sarkastisch-komischen Schilderung eines Lebens im Altersheim und der immer wieder auf die Hauptfigur einprasselnden, dadaistischen Absurdität und erhielt tosenden Applaus. 

Die einzigartige Jodlerin Nadja Räss, die schon seit Jahren die Aussenspielstätten der Schlossmediale begleitet, war diesmal im Konzert JAUCHZEN, ORGELN, JODELN gemeinsam mit Wolfgang Sieber an der Orgel sowie Heinz della Torre mit seinen Kuh- und Alphörnern erstmals zu Gast im Schloss: An einem lauen Sommerabend tauchte das Publikum im Dachstock mit den drei Musikern ganz in die ursprünglichen Klänge und Geräusche der Schweizer Bergwelt ein. Tags darauf konnten Interessierte in einem zweistündigen Jodel-Schnupperkurs mit Nadja Räss sogar selbst diese alte Kunstform ausprobieren. 

Natürliche Klänge, mystischer Ort

Als Wandelkonzert im vielleicht ursprünglichsten Sinn begann das Konzert TIEFE WASSER am Voralpsee oberhalb von Grabs, der diesjährigen Aussenspielstätte der Schlossmediale. Vom Parkplatz her kommend wanderte das Publikum in Richtung See und traf auf einer Waldlichtung auf den sanften und meditativen Naturjodel der Grabser Bergfinkli, der den ganzen Abend begleiten sollten. Unten angekommen, nahm man auf Campinghockern Platz und lauschte den urtümlichen Tönen und Geräuschen des Konzerts, die sich in die beginnende Abenddämmerung am Seeufer einfügten: Tierstimmen aus dem Wald, Heinz della Torres Naturhörner am Ufer und der ferne Klang der Sackpfeife von Markus Maggiori, der leise, und doch unüberhörbar von dem fackelbeleuchteten Boot in der Seemitte ans Ufer drang. Nur einmal, als geräuschvoll die Drohne aufstieg für Genoël von Liliensterns Komposition, zerriss die Moderne die urtümliche Abendidylle am See. Feuertanz und leuchtende rote Regenschirme erhellten am Schluss noch einmal den Nachthimmel über dem Voralpsee. 

Gebändigte Leidenschaft und unbändige Lebenslust

Das Abschlusskonzert und das GRANDE FINALE der Schlossmediale gehörte ganz dem andalusischen Flamenco: Im Konzert DIÁLOGOS SALVAJES traf zunächst der traditionelle Flamenco auf die spanische Barockmusik, meisterhaft und innig interpretiert von der Sängerin Rocío Márquez und dem weltbekannten Gambisten Fahmi Alqhai. Zwischen überlieferter Tradition und heutigem Klang gelang den beiden eine einmalige und meisterhafte Fusion.

Das GRANDE FINALE an einem lauen Sommerabend im Schlosshof bestritt dann die erst 28 Jahre alte Flamencotänzerin Patricia Guerrero: mit unbändiger Lebenslust und unwiderstehlicher Emotionalität das Publikum in ihren Bann zog und mit ihren Temperament und ihrer Leidenschaft dieser wilden Schlossmediale Woche einen gebührenden Abschluss verlieh. 

 

Gemalte Ungeheuer und ein Soundtrack wie aus dem Comicbuch

Wilde Ungeheuer, die mit ihren Augen rollen, ihre Zähne fletschen und ihre Pratzen in die Luft werfen: Die Eigenproduktion für die KINDERMEDIALE entführte in diesem Jahr in das Land WO DIE WILDEN KERLE WOHNEN, und Kinder wie Erwachsenen folgten begeistert. Der Stimmkünstler David Moss war nicht nur der kleine Max, sondern auch alle die Ungeheuer: mit einem wilden Strom aus Tönen, Klängen und Geräuschen erzählte Moss nicht nur packend die Geschichte, sondern lieferte gleichzeitig eine wahre Comicbuch-Geräuschkulisse. Zusammen mit Jan Schlichte am Schlagzeug, Heike Gneiting am Klavier und Mathtias Loibner an der Drehleiher entstand ein vergnüglicher, jazziger Soundtrack zu den in aufwendiger Kleinarbeit von Wiebke Pöpel animierten Originalzeichnungen von Maurice Sendak. 

Wilde Männer, viele Schafe, Waldgeruch

In der Ausstellung WILD umkreisten die drei Stipendiaten der Schlossmediale Patricija Gilyte, Patricia Lambertus und Georg Mann das Thema ganz real und als Metapher. Schon im Hof empfing die Besucher ein mysteriöses, hölzernes Ei, erschaffen aus allerlei Abfallholz aus der Umgebung von Stipendiat Georg Mann, und im Schlosseingang wartete bereits der erste, riesige, wilde Mann der Stipendiatin Patricia Lambertus. Aus dem Turmkeller zog der intensive Geruch abertausender Fichtennadeln in die Halle, und man sah den flackernden Schatten eines Tannenbaums, den Stipendiatin Patricija Gilyte unentwegt um seine eigene Achse tanzen liess. 

Im ganzen Schloss war Wald – ein dunkler, düsterer Märchenwald, bevölkert von Dachsen und Luchsen, von schwarzen Raben, kleinen Rehen, weissen Tauben. Im ersten Stock wuchs ein Birkenwald, ungläubig beäugt von einem Steinbock, und in der Landvogtstube hatten sich die Füchse über ein Festmahl hergemacht. In der angenehm-düsteren Atmosphäre der Schlossküche tummelte sich hingegen eine Schafherde, gefilmt inmitten einer dunklen Industriehalle, umkreist von einem leuchtenden Zeppelin: Die ruhige Audio- und Videoinstallation LANDSCHAFT 3 (DUISBURG-NORD) des Künstlers im Fokus Heiner Goebbels bescherte Momente meditativ-ruhiger Beschaulichkeit durch einen Blick auf eine fremde Landschaft, die doch gar keine war – sondern nur Theater. 

In der Zinne präsentierten Christoph Draeger und Heidrun Holzfeind die Installation FROM WITHOUT AND FROM WITHIN (THE AUROVILLE PROJECT), das Ergebnis ihrer Recherche über die 1968 gegründete südindische Stadt Auroville und die dortigen Versuche, sozialutopische Ideen in reales Leben umzusetzen. Die gemäldeartigen Fotografien von Anne Gabriel-Jürgens zeigten im Schlosskeller die 2000 Meter hoch gelegene GREINA-Hochebene in Graubünden, die im 20. Jahrhundert zu einem Sinnbild des Widerstandes gegen die hemmungslose Ausbeutung der Natur geworden war. Der Kurzfilm DER AUFTRAG von fischteich alias Peter Kuntner und Stephan Lichtensteiger führte einen Menschen aus der Zivilisation in die Wildnis. HAUT UND HAAR von Beryl Schennen hingegen beobachtete einen Mann und eine Frau beim Essen: ein doppeldeutigen Spiel zwischen erotischem Begehren, Genuss und Völlerei, dem die Zuseher gebannt und mit leichten Schaudern folgten.
 

Wild essen, wild wandern, wild tanzen

Abgerundet und ergänzt wurde das Programm der Schlossmediale mit einer packenden Vortrag von This Isler, zwei reizvollen Workshops und dem sehr dem sehr gefragten Yoga im Rittersaal, bei dem in diesem Jahr auch ungezügelt getanzt wurde. 

Auf «wilde Wege» begaben sich in diesem Jahr gleich zwei Veranstaltungen: Die WILDE HILDE Carla Kiefer durchstreifte mit ihren Workshop-Teilnehmerinnen und –Teilnehmern die Umgebung des Schlosses auf der Suche nach allerlei Essbarem, während This Isler in seinem Bildvortrag WILDE WEGE nicht nur eine eindrückliche Tour durch die das Schloss umgebende Bergwelt unternahm, sondern auch die verschiedensten Facetten unserer Faszination mit der wilden Natur unter die Lupe nahm. Vom Freiklettern bis zum Höhlenforschen, von ausgerotteten und wieder angesiedelten Stein¬böcken bis zum Kunstschnee, von Ötzi, dem Mann im Eis, bis zu den heutigen Auswüchsen des Alpinismus reichten die kurzen und unterhaltsamen Schlaglichter, die Isler auf das jeweilige Thema warf.