Rückblick 2023 – WIND
DAS FLÜSTERN, PFEIFEN UND SÄUSELN DES WINDES
Zehn Tage lang liess die 11. SCHLOSSMEDIALE, das Festival für Alte Musik, Neue Musik und audiovisuelle Kunst im Schloss Werdenberg, von 26. Mai. – 4. Juni 2023 den WIND des Jahresthemas durchs Schloss pfeifen und singen, flüstern und säuseln. 1’181 Besucherinnen und Besucher kamen zu Konzerten und Performances, zu den zwei Schlossmediale-Aussenstellen in Heiden AR und in Chur sowie in die Ausstellung: Sie hörten den Wind als Atem und Orgelton, nahmen wahr, wie er als Klang in Blech- und Holzblasinstrumenten fuhr und Mühlenräder wirbelte; sie sahen, wie er an Saiten zerrte und fühlten, wie er kräftig über Bergrücken blies.
Im Fokus des Festivals stand diesmal der Schweizer Komponist Daniel Ott, dessen Markenzeichen es ist, der Musik in der Natur eine Heimat zu geben. Ott spürte dem Wind und der Natur mit dem Auftragswerk der Schlossmediale «Werdenberger Fragmente» nicht nur im gesamten Dachgeschoss des Schlosses nach, sondern auch hoch über dem Bodensee bei der Uraufführung seines «Seestücks» am Kaien in Heiden in Appenzell Ausserrhoden. Für den Künstler im Fokus, Ban Lei, geboren 1990 in Shanghai, stehen die Schriftzeichen ⽊⾳(Holz/Klang) und ⻛林 (Wind/Wald) für unzählige selbst entwickelte und selbst gebaute Holzinstrumente und Klangskulpturen, die im ganzen Schloss zu finden waren und zum Teil auch vom Publikum bespielt werden konnten.
«Wir hatten wahrlich perfekten Wind!»
«Es hat mir unglaublich viel Spass gemacht, in den vielen verschiedenen Konzerten und in der Ausstellung die Vielgestalt des Windes erfahrbar zu machen: vom fast lautlosen Stimmhauch des Ensemble thélème im Konzert WINDSTILL bis zum infernalischen Donnergrollen des Trio Rumori Forti im Eröffnungskonzert. Wir hatten wunderbares Wetter bei der Uraufführung von Daniel Otts «Seestück» am Pfingstmontag in Heiden – und mit der kräftigen Bise, die dem Publikum den Klang der Konzertwanderung um die Ohren blies, auch den perfekten Wind!», freut sich die künstlerische Leiterin von Schloss Werdenberg, Mirella Weingarten: «Nach Roman Signer, unserem ältesten Künstler im Fokus, der 2022 zu Gast war, war Ban Lei dieses Jahr unser jüngster: Er begleitete die Schlossmediale während der ganzen zehn Tage und hat mit mit seinen poetischen Instrumenten die Besucher:innen ganz und gar bezaubert.»
Auch Schlossleiter Thomas Gnägi zieht eine positive Bilanz des 11. Pfingstfestivals im Schloss Werdenberg: «Auf die Schlossmediale muss man sich einlassen und man weiss nie ganz genau, was einen erwartet. Doch gerade deshalb kommt unser treues Publikum während dieser zehn Tagen immer gern ins Schloss: Weil es am Ende der Festivals in jedem Jahr wieder etwas Einzigartiges erlebt hat!»
Donner und Blitz
Ein Abend voller WIND UND WETTER war die Eröffnung der diesjährigen Schlossmediale am Freitag, 26. Mai: Empfangen im Eingang von Naomi Sato und dem sanften, sonderbar metallischen-zarten Hauch der japanischen Mundorgel Shō, über den beinahe menschlichen Atem von Teodoro Anzellottis Akkordeon in Daniel Otts frühem Werk «Molto Semplicemente», ging es hinauf in den Dachtock, vorbei am Roméo Monteiros skurril-virtuoser Performance mit Lego-Klötzen, Tröten und einem musikalischen Gummihuhn auf der «Air Machine» des tschechischen Komponisten Ondřej Adámek. Ganz oben wartete dann personifizierter Donner und Blitz aufs Publikum: Das Trio Rumori Forti, die drei Schlagwerker des Tonhalle Orchesters Zürich liessen auf ihrem gesamten Instrumentarium kraftvoll und gekonnt Wind jaulen, Donner krachen und Blitze zucken.
Am Samstag, 27. Mai war Uraufführungstag im Schloss: Gleich zwei Auftragswerke der Schlossmediale gab es im Konzert STURMHÖHE zu erleben. Den Anfang machten die «Werdenberger Fragmente» von Daniel Ott: Den ganzen Dachstock konnte das Publikum entlang von Otts Werk durchwandeln und sich zwischen Chorgesang und Trompete, Cello und Violine treppauf, treppab eine ganz eigene Klangwelt zusammenfügen. Erstmals zu hören war auch die Komposition «Sonarer Wind», vom Sonar Quartett speziell für das Schloss Werdenberg erschaffen und meisterhaft uraufgeführt. Wild, virtuos und leidenschaftlich schliesslich das Streichquartett Nr. 2 von Leoš Janáček, ebenfalls gespielt vom Sonar Quartett.
Wind und Wetter und die
Freiheit im Werdenberg
Im Konzert GEGEN WINDMÜHLEN liessen Sängerin Franziska Baumann und Schlagzeuger Lucas Niggli am Sonntagabend, 28. Mai den Wind durch den Dachstock fegen und säuseln, zischen und toben. Ein Chor aus Werdenberger Wetterstimmen sprach, raunte und flüsterte zusammen mit Franziska Baumann von Sturm und Regen, von Wind und «Pföa» (Föhn), während Lucas Niggli wie ein wahrer Don Quijote gegen das Flügelwirbeln einer eigens vom Schlossmediale-Team gebauten Windmühle kämpfte, die ihn am Schluss beinahe zu übermannen drohte.
Um das Leben der Menschen im Werdenberg drehte sich auch die für die Schlossmediale konzipierte, szenische Aufarbeitung WESTWIND von This Isler sich am Sonntag, 28. Mai und am Samstag, 3. Juni. Im Zentrum der Begriff der Freiheit in der Werdenberger Geschichte, festgemacht am Schweizer Schicksalsjahr 1798: Überall, auch in Werdenberg, zerfallen die alten Strukturen. Der Glarner Landvogt muss fliehen, doch die Freude der Menschen über die neugewonnene Freiheit währt nicht lang, bald schon verfällt das Land in Krieg und Anarchie. In sechs eindrücklichen Szenen konnte man an verschiedenen Spielorten im Städtli erleben, wie es einer Werdenberger Familie während dieser Zeit ergangen sein könnte.
Musik und Heu, den Bodensee im Blick
Am Pfingstmontag dann die erste von zwei Aussenstellen der Schlossmediale: Eine musikalische Wanderung vom Kaien in Appenzell Ausserrhoden hinunter nach Heiden war das SEESTÜCK von Daniel Ott, eine Koproduktion mit dem Heiden Festival und eigens komponiert für diesen ganz besonderen Ort. Inmitten von frischgemähtem, duftendem Gras, den blauen Bodensee immer im Blick, wanderte und schlenderte das Publikum als buntes Häufchen hügelabwärts. Umgeben von Hackbrett- und Akkordeonklängen, die weit hinunter über den Bergrücken schallten. Ein frischer Nordwind trieb die Musik der wie Perlen auf einer Schnur aufgereihten Musizierenden der Jugendmusik Rehetobel eigenwillig vor sich her. Am Ende traf man auf den Schauspieler Ueli Jäggi, der an einer windgeschützten Hauswand sass und den rundherum sitzenden Menschen Texte von Robert Walser vorlas.
Weiter ging es am selben Abend im holzgetäferten Saal des Gasthof Linde im Ortszentrum von Heiden. Auch in der Konzertlesung LINDER WIND lauschte das Publikum sprachgewaltigen Texte von Robert Walser, wiederum feinsinnig gelesen von Ueli Jäggi, der Uraufführung der «Linden-Fragmente» von Daniel Ott, gespielt von Teodoro Anzellotti auf dem Akkordeon sowie einer „Hackbrett-Jam-Session“ von Elias Menzi und Töbi Tobler.
Wind in Stille und Improvisation
Im Konzert WIRBELWINDE mit dem Quartetto Loco – bestehend aus dem Duo Bottasso aus Italien, dem spanische Klarinettisten Oscar Antoli und dem Schweizer Cellisten Bo Wiget – sowie Tubist Marc Unternährer am Mittwoch, 31. Mai, wehten die Winde der famosen Improvisation aus allen Himmelsrichtungen: Mit makedonischen Wirbelstürmen und liebliche Brisen aus dem Mittelmeerraum, dem Föhn und einem mit indischen Rhythmen gespickten Südwind lockten die fünf Musiker Schlossetage um Schlossetage hinauf in den Dachstock.
Im Konzert WINDSTILL am Donnerstag, 1. Juni hingegen wurde vom Ensemble thélème die Stille zelebriert: Zuhörerinnen und Zuhörer sassen rund um die drei Musiker herum inmitten verstreuter Notenblätter im Halbdunkeln, betört von John Dowlands uralten, tief melancholischen Werken und der Neuen Musik von John Cage, diesem modernen Meister der Stille: Mit Cages berühmtem Werk «4′33″» zelebrierte das Ensemble thélème – Bass Jean-Christophe Groffe, Tenor Ivo Haun und Lautenist Ziv Braha –an diesem Abend auch die vollkommene Abwesenheit von Klang.
Tango und Renaissance, Butoh und Karate
Am Freitag, 2. Juni war Schlossmediale Open-Air im Schlosshof angesagt: Die französische Bandoneonistin Louise Jallu bezauberte in LES FORCES DU VENT das Publikum an einem perfekten Sommerabend mit ihrer mal melancholischen, mal leidenschaftlichen Interpretation von Astor Piazzollas Tangos. Jallu hauchte ihrem atmenden und klagenden Bandoneon nicht nur die stürmische Seele des Tangos ein, sondern glänzte zusammen mit ihrem Quartett auch mit brillanten Eigenkompositionen.
Die zweite Aussenstelle der Schlossmediale am Samstag, 3. Juni führte die Besucher:innen unter dem Titel AUSSER ATEM in den magisch-schlichten Schutzbau des berühmten Bündner Architekten Peter Zumthor für die Ausgrabung der römischen Siedlung Curia Raetorum in Chur. Im Zusammenspiel von Katharina Bäuml (Schalmei), Bertl Mütter (Posaune), Matthias Ziegler (Kontrabassflöte) sowie Peter Conradin Zumthor am Schlagzeug und der Butoh-Tänzerin Junko Wada, entspann sich ein einmaliger Abend voller musikalischer Poesie und unvergesslicher Bilder.
Zum Abschluss am Sonntag, 4. Juni folgte ein weiteres, aussergewöhnlich Konzert: Die Capella de la Torre und der italienische Karateka Maurizio Castrucci verbanden in ihrem Gastspiel ATMEN Renaissancemusik und Martial Arts zu einem feinsinnigen Zusammenspiel von Atem und Rhythmus, Ritual und Improvisation, von Kraft und Konzentration. Der heiteren Seite der Alten Musik galt das GRANDE FINALE «DURCH DEN WIND», ebenfalls bestritten von der Capella de la Torre mit viel holzbläserischem Temperament: ein schwungvoller und würdiger Abschluss der 11. Schlossmediale Werdenberg.
KINDERMEDIALE: Ein flirrender Zustand aus Licht und Schatten
«Schattenschlachten», die diesjährige KINDERMEDIALE am Pfingstmontag, 29. Mai, war ein schwebender, flirrender Zustand aus Licht. Farben, die perlend und leuchtend im Dunkeln erglühten und sich dann mit den Schatten mischten, die über die riesige, runde Leinwand huschten. Es war eine Skulptur, in die man rundum eintauchen konnte; eine Zauberlandschaft voller wundersamer Gegenstände und seltsamer Formen, mit rätselhaften Klangdialogen aus Oboengenäsel und Saxophongeknurre, aus kribbeligen Xylophonschlägen und raschelnden, flimmernden Trommelwirbeln. Alle konnten sich rundherum frei bewegen: Das lud Kinder und Erwachsene dazu ein, eigene Standpunkte zu finden und sich der Erforschung der Dunkelheit zu widmen.
Orgeltöne und Flötenvögel, tanzende Tuschestife und klingende Gummischweinchen
Orgeltöne und Flötenvögel, tanzende Tuschestife und klingende Gummischweinchen
Was Wind macht – und was man mit dem Wind so alles machen kann, das konnte man in der Ausstellung der Schlossmediale erleben, erspüren und erfahren. Da waren singende Drachen und wohltönende Latexhandschuhe am Eröffnungstag, die letzten vier Schlossbewohnerinnen als harmonische Klanginstallation in der Zinne, und die Luft, die durch Bücherseiten blätterte und Tuschetifte vor sich hertrieb. In Fotografien riss der Wind an der Natur und manifestierte sich in expressiven Gemälden in seiner elementarsten Kraft.
Im ganzen Schloss waren diesmal die filigranen, selbstgebauten Instrumente des 1990 in Shanghai geborenen Ban Lei, des diesjährigen Künstlers im Fokus zu finden. Die chinesischen Schriftzeichen ⽊⾳ (Holz/Klang) und ⻛林 (Wind/Wald) stehen für all die ausgetüftelten, feinen Holzinstrumente, mal winzig klein, mal riesengross, die der Musiker, Soundartist und bildende Künstler in den letzten Jahren in Genf entwickelt hat, und die das Publikum im Schloss hören und bespielen konnte. Das Publikums-Highlight der ganzen Schlossmediale-Woche waren Ban Leis 153 kleine «singende Vögel» die im ganzen Dachstock von der Decke hingen: Jeweils bestehend aus einem Blasebalg mit gestimmter Holzflöte, gaben sie, wenn gedrückt, täuschend echte, mal hohe, mal tiefere Vogeltöne von sich.
Die Stipendiatinnen und Stipendiaten näherten sich dem Wind nicht nur als Naturgewalt und als spielerische Kraft, sondern hinterfragen auch, in welcher Form der Mensch Klima, Lebensräume und Landschaften tiefgreifend und unumkehrbar verändert. Yasuaki Onishi platzierte für DISTANCE BETWEEN PRESENCE AND ABSENCE Gebrauchsgegenstände aus dem Werdenberg unter einer durchsichtigen Folie: Durch den Austausch von Wind und Luft entstanden Situationen des Sichtbar- und Unsichtbar-Seins, und die Installation erschien beinahe als atmendes, lebendiges Objekt. In Christiane-Gerda Schmidts Installation RECORDINGS II war nicht der Mensch der direkte Urheber eines Werkes, sondern die Luftbewegung: Die Künstlerin überliess dem Wind zweier Ventilatoren einen Tuschestift und liess ihn mit seinem Luftstrom selbst Zeichnungen erschaffen. Andreas Schröders spielbare Installation PNEUMA bestand aus einem Druckluftkompressor, modifizierten Tonerzeugern und naturnahen Blasinstrumenten in Form von Tierhörnern. Im Bärenzimmer des Schlosses liess er in der Installation GRAMMA mittels dosierter Luftströme den Wind in Buchseiten blättern.
Die Orgel, das Instrument im Fokus 2023, war auch in der Ausstellung vertreten: Die Audioinstallation des Vorarlberger Komponisten Alexander Moosbrugger versah die vier Öffnungen in der Turmzinne mit je vier Pfeifen unterschiedlicher Bauart und klanglicher Spezifikation. Die Tonhöhen der Pfeifen basierten auf Mehrklängen der japanischen Mundorgel Shō und banden die Initialen der vier letzten Schlossbewohnerinnen mit ein: F(rida) H(ilty), D(orothea) H(iller), A(nni Kohler) und A(nni) F(uchs).
Umwerfend und unvergleichlich war die AIR MACHINE, eine Erfindung des tschechischen Komponisten Ondrej Adámek: Diese «Luftorchestermaschine» entpuppte sich bei der Vernissage am Freitag, 26. Mai als wahres Wunderwerk, und wurde famos gespielt vom französischen Perkussionisten Roméo Monteiro: Er stülpte unter anderem Rohre und Faschingströten, Gummihandschuhe und Spielzeug-Schweinchen über diverse Luftdüsen: Gegenstände, die sich unter Luftzufuhr allesamt als verblüffend wohltönende, bisweilen beinahe lebendig wirkende Klangkörper erwiesen und dem anwesenden Publikum grosses Vergnügen bereiteten.
Die Schweizer Künstlerin Meret Dorothea Gerber verzauberte mit ihrer Skulptur WINDSTOSS die Apotheke im Schloss in einen anderen Ort: Echte Herbstblätter und Blätter aus weissem Carrara-Marmor verliehen dem Raum einen märchenhaften, surrealen Schein. Sabrina Hölzer und Paul Valikoski liessen in ihrer Installation THE WIND MOVES, THE FLOWERS OPEN den «Odem» der Natur durch Klanghörner strömen und rückten das Öffnen, Blühen, Verwelken und Vergehen von Blumen ins Zentrum.
Im Schlosskeller hielt Edward B. Gordons WINDMACHER die Kraft der Elemente in Ölgemälden fest, während die Fotografien in ORDINE TEMPORANEO des Schweizer Fotograf Georg Aerni Ansammlungen von Schwemmgut zeigten: Zeugen von Sturmwinden, Wassermassen und den gewaltigen Zerstörungskräften der Natur.